Wird Europa einfrieren?

13:00 20. Juli 2022

Europa steht derzeit möglicherweise vor der schlimmsten Energiekrise seiner Geschichte. Es gibt viele Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben, der Hauptgrund ist aber offensichtlich. Russland hat als Gegenreaktion auf europäische Sanktionen die Gaslieferungen an viele EU-Mitglieder eingestellt und für andere Länder schrittweise reduziert. Viele Jahre lang war Gas die bevorzugte Energiequelle in Europa, was mit seiner Verfügbarkeit und seinem niedrigen Preis zusammenhing. Auch die Aktionen der russischen Lobby, die Europa von den Gaslieferungen abhängig gemacht hat, sind nicht auszuschließen. Aus diesem Grund befürchten viele, dass Europa im Winter einfrieren könnte.

Struktur der europäischen Gasnachfrage

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Vor dem Krieg entfielen ca. 30-40% der Gaseinfuhren der Europäischen Union auf Russland. Die Abhängigkeit der EU von diesem Rohstoffimport stieg auf etwa 80%. Das ist viel, aber einige Jahre lang reduzierte die EU ihre eigene Produktion und importierte aufgrund der niedrigeren Preise mehr aus Russland. Trotz massiver Einwände der Transitländer und der Vereinigten Staaten entschied sich Deutschland für den Bau des zweiten Abschnitts des Nord-Stream-II-Projekts. Dabei wurde die Diversifizierung der Lieferquellen völlig vernachlässigt. Gas war nicht nur sehr billig, was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie im Laufe der Jahre erhöht hat, sondern ist auch ein verhältnismäßig emissionsarmer Rohstoff im Vergleich zu Kohle. Kein Wunder also, dass Gas zu der von der grünen Agenda favorisierten „Übergangs"-Energiequelle der EU geworden ist.

Im vergangenen Jahr belief sich der Verbrauch in der EU nach Angaben von Eurogaz auf etwa 4700 TWh (Terawattstunden), d. h. auf knapp 500 Milliarden Kubikmeter. Nahezu 20% dieser Menge wird von Deutschland verbraucht, aber auch Italien und bis vor kurzem das Vereinigte Königreich sind Großverbraucher. Gas macht 22% aller Energiequellen in Europa aus, scheint also nicht unersetzlich zu sein. Andererseits wird Gas in ganz Europa hauptsächlich zum Heizen von Häusern, zur Warmwasserbereitung und zur Lebensmittelzubereitung verwendet, ganz zu schweigen von vielen Industriezweigen, in denen es derzeit die einzige mögliche Energiequelle ist.

Wie ist die aktuelle Situation?

Der Anteil des russischen Gases an den Einfuhren in die Europäische Union ist drastisch gesunken, und zwar von rund 40% (auf der Grundlage der Daten von 2021) auf rund 20% in der ersten Hälfte dieses Jahres. Das sollte natürlich nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass die Ausfuhren nach Polen, in die Niederlande, nach Griechenland, Dänemark und sogar nach Finnland eingestellt wurden. Darüber hinaus wurde der Transfer nach Deutschland um massive 60% reduziert, und viele andere wichtige Vertragspartner wie Italien, Frankreich, Österreich und die Tschechische Republik importieren ebenfalls weniger aus Russland. Die Unterbrechung der Gaslieferungen ist das Ergebnis einer Nichteinhaltung der Zahlungsmodalitäten, die von Gazprom auferlegt wurden. Gleichzeitig ist die Reduzierung der Lieferungen das Ergebnis eines politischen Spiels.

Europa versucht, die Einfuhren aus Russland zu ersetzen. Es wurden riesige Mengen an verflüssigtem Erdgas (LNG) gesammelt, und die Einfuhren aus anderen Quellen, insbesondere aus Norwegen, wurden erhöht. Europa hat immer noch freie Importkapazitäten, wenn es um LNG-Gas geht, oder die Möglichkeit, mehr Gas aus Nordafrika oder Aserbaidschan einzuführen. Die Lagerbestände sehen besser aus als im letzten Jahr, und die Lagerhäuser in Europa sind zu etwa zwei Dritteln gefüllt. Einige Länder wie Polen oder Portugal sollten ein Vorbild sein, da die Lagerhäuser in diesen Ländern zu fast 100% gefüllt sind. Natürlich muss man auch bedenken, dass die Größe der Lagerhäuser im Vergleich zu Deutschland klein ist. In Polen sind die Lagerhäuser etwa 6 Mal kleiner als in Deutschland. Theoretisch ist die Situation also nicht schlecht, aber leider sind die unmittelbaren Aussichten nicht sehr optimistisch.

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Die Gasvorräte in Europa sehen angesichts der aktuellen Jahreszeit recht gut aus. Die Lagerhäuser sind zu zwei Dritteln gefüllt, was dem 5-Jahres-Durchschnitt entspricht. Quelle: Bloomberg

Was ist, wenn Russland den Gashahn zudreht?

Russland hat die Gaslieferungen an westeuropäische Länder bereits erheblich reduziert. Die Lieferungen nach Deutschland waren sogar um 60% niedriger als in den Vorjahren und sind nun aufgrund der jährlichen Wartung der Pipeline auf Null gesunken. Die Befürchtungen, dass die Gaslieferungen aus Russland nicht wieder aufgenommen werden, sind groß. Die frühere Reduzierung des Gastransfers war auf technische Probleme zurückzuführen. Gazprom hat Druck auf Siemens ausgeübt, damit die für die Wiederaufnahme des Gastransfers erforderlichen Turbinen repariert werden. Was die Wartung der Turbinen betrifft, hat sich Kanada bereit erklärt, die dafür benötigte Ausrüstung zu schicken. Allerdings ist auf Grund der Sanktionen noch unklar, ob dieses Ziel erreicht wird. Wir sollten also nicht überrascht sein, wenn im August kein Gas über Nord Stream I nach Deutschland fließt. Ein kleiner, aber dennoch positiver Aspekt ist, dass immer noch Gas durch die Gaspipeline in der Ukraine fließt.

Der Gastransfer nach Deutschland ist nun auf Null gesunken. Zuvor waren die Transfers aufgrund angeblicher technischer Probleme um etwa 60% zurückgegangen. Quelle: Bloomberg

Sollten wir dicke Socken vorbereiten?

Leider handelt es sich hierbei nicht um einen Scherz. Führende Politiker in vielen europäischen Ländern sprechen von einem Krisenplan für den Winter. Obwohl einige Lösungen aus der Perspektive unseres täglichen Lebens absurd erscheinen, bleibt das Lachen aus. Politiker in Polen oder Deutschland raten den Bürgern, Brennholz zu sammeln. Selbst die Deutsche Bank wies darauf hin, dass die Deutschen Kamine benutzen müssten, um sich warm zu halten. Die Behörden in Polen empfehlen, die Häuser vor dem Winter zu isolieren, und die Behörden der Europäischen Union empfehlen, dicke Socken und Pullover zu kaufen und die Temperaturen in den Häusern zu senken. Im Gegenzug lädt der griechische Botschafter in Deutschland alle Rentner aus dem Norden ein, die Herbst- und Winterzeit auf den warmen Mittelmeerinseln zu verbringen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Menschen im Winter keinen Zugang zu Gas in ihren Häusern haben werden - dafür sind die Reserven ja da. Auf der anderen Seite werden wir dafür mit höheren Rechnungen und durch die wirtschaftliche Verlangsamung aufgrund der Einstellung der Tätigkeit in vielen Industriesektoren bezahlen.

Ist es wirklich so schlimm?

Betrachtet man die Statistiken, so ist die Situation gar nicht so schlecht. Um die russischen Gaslieferungen zu ersetzen, müsste Europa etwa 1600-1700 TWh an zusätzlicher Energieversorgung finden. Dies entspricht in etwa der Menge der LNG-Importkapazität nach Europa. Darüber hinaus gibt es eine zusätzliche Versorgung von bis zu 200 TWh über eine Gaspipeline aus Nordafrika und mögliche Lieferungen aus Norwegen. Leider lässt die LNG-Gasinfrastruktur jedoch keinen freien Gasfluss in Europa zu. Spanien und das Vereinigte Königreich verfügen derzeit über die Hälfte der Wiederverdampfungskapazität. Spanien hat nur über Gaspipelines ständigen Kontakt zu Frankreich. Europa muss auch Lieferanten finden, die dieses Gas auf den Kontinent bringen. Die Vereinigten Staaten liefern im Moment recht viel Gas nach Europa, allerdings nicht genug, um Russland als Hauptlieferanten zu ersetzen. Außerdem müssen neue Verträge auf dem LNG-Markt geschlossen werden, um einen Teil des Gases, das bisher nach Asien geflossen ist, nach Europa zu leiten. Solche Dinge brauchen Zeit, und Europa könnte von heute auf morgen seines größten Brennstofflieferanten beraubt werden. Außerdem ist zu bedenken, dass Europas größter Rettungsring ebenfalls „sinkt". Die Gaslieferungen aus Norwegen sind stark zurückgegangen, da die Beschäftigten des norwegischen Gas- und Ölsektors wegen der niedrigen Löhne gestreikt haben. Im Moment scheint die Situation unter Kontrolle zu sein, aber ähnliche Probleme sind für die Zukunft nicht auszuschließen.

Wie kann Europa mit den aktuellen Problemen umgehen?

Natürlich hat die EU die Möglichkeit, Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen, aber auch diese haben eine begrenzte Energiekapazität. In diesem Fall lohnt es sich, auf den potenziellen erheblichen Anstieg der Nachfrage nach CO2-Emissionszertifikaten zu achten, sofern die diesbezüglichen Vorschriften nicht verringert werden. Höchstwahrscheinlich wird die Nachfrage jedoch sinken, und zwar nicht nur im Industriesektor, sondern auch im Bereich der Heizung. In Deutschland wird bereits empfohlen, die Temperatur in öffentlichen Räumen im Winter auf 20 Grad einzustellen, obwohl einige Leitfäden zeigen, wie man mit einer Temperatur von etwa 15-16 Grad im Alltag zurechtkommt. Bloomberg weist darauf hin, dass Europa in der Lage sein wird, etwa die Hälfte des russischen Angebots zu ersetzen, sodass die Reaktion der Nachfrage wirklich stark sein muss. All das deutet darauf hin, dass es in diesem Winter nicht nur kälter wird, sondern auch unsere Geldbörsen an Gewicht verlieren werden. Es sollte uns nicht überraschen, wenn die Gaspreise an der Amsterdamer Börse in den Bereich von 200-250 EUR/MWh springen, und sogar die Marke von 300 EUR/MWh ist möglich. Natürlich ist alles, was in diesem Artikel dargestellt wurde, zwar pessimistisch, aber ein sehr realistisches Szenario. Es bleibt zu hoffen, dass der Winter mild wird und Russland sich entschließt, den Transfer nach Deutschland wieder aufzunehmen.

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Die Preise in Europa bewegen sich in der Nähe von Allzeithochs, aber die Aussetzung der russischen Lieferungen könnte sie noch weiter in die Höhe treiben. Theoretisch könnte dies die Gaspreise in den Vereinigten Staaten in die Höhe treiben, die an einer Erhöhung der Lieferungen nach Europa arbeiten. Preise in USD pro Million britischer Heizeinheiten. Der Preis an der niederländischen Börse liegt derzeit bei 160 EUR pro Megawattstunde. Quelle: Bloomberg

Die Gaspreise sind auch für den Euro und den polnischen Zloty entscheidend. Eine Preisstabilisierung dürfte den europäischen Währungen zugutekommen, da sich das Risiko einer Energiekrise verringert. Steigen die Preise jedoch über 200 EUR / MWh (über 70 USD / MMBTU), könnte es zu einer Schwäche vieler europäischer Währungen kommen.

Maximilian Wienke, CFTe
Marktanalyst bei XTB
maximilian.wienke@xtb.de

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